Die Harsefelder Lichtspiele

Hundert Jahre Kinogeschichte

Wir gehen ins Kino, um zu lachen, zu weinen, mitzufiebern und Geschichten zu erleben, die mitreißend und einzigartig sind. Unser Kino hat eine solche Geschichte …

1928
1928

Bereits 1928

brachten Friedrich Meyer und seine Frau Minna die ersten bewegten Bilder auf die Leinwand – in schwarz-weiss und ohne Ton. Still war es während der Vorführungen jedoch nicht, denn Filmvorführungen wurden damals noch mit handgemachter Musik untermalt. Willi Glüsen, der ein kleines Geschäft im gleichen Gebäude betrieb, verdiente sich die Ladenmiete als Klavierspieler im Kino.

1950
1950

Die 50er Jahre

waren geprägt vom deutschen Wirtschaftswunder. Es war das Jahrzehnt von Petticoat und Motorroller, Elvis Presley und dem Fußballwunder von Bern. Unser Saal hatte den Krieg weitestgehend unversehrt überstanden und die Sehnsucht nach lebensbejahenden Heimatfilmen war groß. Während Romy Schneider nicht nur Kaiser Franz, sondern auch Kinogänger im ganzen Land verzauberte, nahm die technische Entwicklung hinter den Kulissen Fahrt auf. Angesichts umsatzstarker Vorjahre konnten Karl-Friedrich und Erika Meyer investieren und spendierten dem Saal modernere Projektoren, die sie einem abdankenden Kinobetreiber gebraucht abkauften.

1960
1960

Anfang der 60er Jahre

verbreiteten sich TV-Geräte zunehmend und fesselten Filmbegeisterte an das Sofa im eigenen Wohnzimmer. Das Ergebnis: Sinkende Besucherzahlen und die erste handfeste Krise für die Kino-Industrie der ganzen Welt. Während sich tausende Filmsäle der schweren Zeit geschlagen gaben, setzte man in Harsefeld darauf, die jahrzehntelange Tradition durch Innovation zu bewahren – mit Erfolg! Das Verzehrkino brachte Familie Meyer den großen Durchbruch. „Die heutige Vorstellung ist ausverkauft“ prangte es annähernd täglich über dem Eingang an der Marktstraße, denn Kino war wieder ein Erlebnis. Getränke wurden selbst während der Vorstellung an den Platz gebracht und die offizielle Raucherlaubnis pustete bläulichen Nebel in den Saal, der knapp über den Köpfen der Besucher die Projektionsstrahlen brach. Die Lust am Leben war spürbar.

1990
1990

Die 90er Jahre

brachten jede Menge technologische Meilensteine und hatten neben Handys und dem Internet auch Multiplex-Kinos im Gepäck. Die vermeintliche Perfektionierung des Kino-Erlebnis ließ die Betreiber kleiner Lichtspiel-Häuser in Ehrfurcht erstarren. Marga Engelmann verstand jedoch schnell, welch goldene Chance sich im Erwachen der Giganten verbarg. Denn während das Multiplex mit krachenden Hollywood-Blockbustern lockte, interpretierte sie das Kino-Erlebnis wie es ihr selbst als leidenschaftliche Cineastin so viel besser gefiel: Mit besonderer Arthouse-Selektion, Themen-Reihen und dem regelmäßigen Filmstammtisch nutzte sie die entscheidenden Vorteile der Unabhängigkeit und zauberte ein echtes Programm-Kino im Herzen Harsefelds.

2002
2002

Im Jahr 2002

landete ein unscheinbarer, grauer Umschlag aus Bonn im Briefkasten, der für reichlich Lokalrunden in Meyer’s Gasthof sorgen sollte: Frau Prof. Dr. Christina Weiß, Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, zeichnete die Harsefelder Lichtspiele für das hervorragende Kinoprogramm aus. Der finale Beweis dafür, dass all die Arbeit, die Leidenschaft und das ständige Aufbäumen gegenüber einer scheinbar übermächtigen Industrie endlich Früchte trug. Ein Moment, wie im Kino: Lachen, Weinen und das große Hoffen auf eine gute Fortsetzung – und die ließ nicht lang auf sich warten: In den Folgejahren durfte Marga Engelmann zahlreiche weitere Preise für das von ihr entwickelte Konzept entgegennehmen, das die Lichtspiele bis heute prägt.

2010
2010

In den 2010er Jahren

wurde Kino digital. Eine branchenweite Entwicklung, der sich die Lichtspiele nicht entziehen konnten und das Kino mit neuen Projektoren und Tontechnik ausstatteten. Die 35mm-Rolle mochte ausgedient haben, doch in Harsefeld wurden keine Mühen gescheut, die einzigartige Atmosphäre beizubehalten. So kamen die Kinokarten weiterhin von der Rolle – unverändert seit 1928. Das zahlte sich aus, denn der nostalgische Charme mit Service am Platz begeisterte die Presse und diente als Story-Aufhänger für regelmäßige Berichterstattung in Zeitung und Fernsehen. Die Folge war ein stets ausverkaufter Saal und eine erfüllte Macherin, die 2016 schließlich an ihren Sohn Klaus Martin übergab.

 

Dieser setzte mit dem 1. Harsefelder Open Air Kino seinen ersten persönlichen Meilenstein.

Die Lautstärkeregler standen auf Anschlag als kurz vor Mitternacht die 18-minütige Live Aid-Szene der Queen-Verfilmung „Bohemian Rhapsody“ lief. 500 Gäste kamen für das gefeierte Queen-Biopic in den Harsefelder Klosterpark. Am nächsten Tag fiel das Open Air Kino aus. Es regnete – u.a. Kino-Freikarten, denn alle Nachbarn, die sich über den Lärm vom Vorabend beschwerten, wurden freundlich eingeladen, die beeindruckende Szene selbst einmal zu erleben.

2020
2020

2020

hält die Corona-Pandemie die Kino-Säle in aller Welt geschlossen. Die allgegenwärtige Lethargie wurde in der Marktstraße jedoch kurzerhand aus dem Saal gebeten, denn die Pläne für eine Rundum-Restaurierung des Kinos lagen bereits in der Schublade.

Über einen großen Artikel im Stader Tageblatt wurden insbesondere die Gäste der umliegenden Region eingeladen, sich die ausgedienten Kinosessel und somit ein kleines Stück Harsefelder Ortsgeschichte nach Hause zu holen. Die überwältigenden 467 Anfragen toppte lediglich ein Anruf aus Rosengarten, dessen Ergebnis heute für alle Interessierten zu besichtigen ist. Im Freiluftmuseum am Kiekeberg ist seit Sommer 2021 die originale Kino-Einrichtung – u.a. Sitzreihen, Tische, Wandbespannung – sowie Leinwand und Projektionstechnik ausgestellt. Echte Zeitdokumente wie Abspielverträge und Filmabrechnungen der letzten 90 Jahre komplettieren die Ausstellung.

Im mittlerweile leeren Saal der Lichtspiele begannen nun die Restaurierungsarbeiten. Jedes einzelne Teil des neuen Interieurs wurde dabei exklusiv für die Harsefelder Lichtspiele maßgefertigt – angefangen bei den originalgetreuen Sitzreihen aus Norwegen, über die individuell geschreinerten Echtholz-Tische, die textile Wandbespannung, bis hin zum goldfarbenen Vorhang. Die historischen Säulen und Türfassungen des Saals wurden in mühevoller Handarbeit aufgearbeitet, um die antiken Bauteile in neuem Glanz erstrahlen zu lassen. Dabei hielten 90 Jahre Kinogeschichte natürlich zahlreiche Überraschungen bereit. So fand sich hinter der Leinwand ein Messing-Kronleuchter, der schätzungsweise 80 Jahre unbemerkt hinter den Kulissen lag und seither das Bühnenzimmer neben der Leinwand schmückt. Wo der Leuchter früher einmal hing, bleibt ein Rätsel.

Man könnte noch etliche Anekdoten erzählen, denn die Restaurierung, die Sie gerade in 30 Sekunden nachgelesen haben, beanspruchte in Wirklichkeit einen Zeitraum von stolzen 6,5 Monaten. Das unterstreicht, mit welcher Hingabe dieser zauberhafte Ort gleichermaßen erhalten, gepflegt und weiterentwickelt wird. Nach einer schier nicht enden wollenden Zeit der pandemiebedingten Schließung öffnete sich am 1. Juli 2021 der goldene Vorhang erstmals wieder für Besucher – „Film ab!“ für den neuen alten Saal der Harsefelder Lichtspiele.